Nachricht von C.L. „Vielleicht bist du schon benachrichtigt worden, dass Dietmar Becker leider Tschüss gesagt hat. Er ist am 28.06. morgens verstorben.“ Ich rufe sie an und erfahre, dass er nach einem Zeckenbiss hohes Fieber bekam, ins Koma versetzt werden musste und anschliessend starb. Warum überrascht mich das nicht, genauso wenig wie es mich wahrscheinlich überrascht hätte, wenn Dietmar noch 20 Jahre gelebt hätte und 103 Jahre alt geworden wäre? Im Internet finde ich unter den Suchbegriffen „dietmar becker künstler engen gestorben“ im Bildarchiv Todesanzeigen vieler Dietmar Beckers von 2011 bis 2023, aber mein Freund ist nicht dabei. Merkwürdigerweise folgt nach den Todesanzeigen der Hinweis auf „Café Deutschland – Gespräch mit Markus Lüpertz“.
Dietmar Becker war ein großartiger Mensch und unterschätzter Künstler. ich lernte ihn und seine Frau, die bekannte Sozialwissenschaftlerin Regina-Becker Schmidt, die im September letzten Jahres gestorben ist, Anfang der 1980er Jahre kennen. Das war auf einer Lesung auf der sogenannten Literanover 1985. Danach verloren wir uns aus den Augen, aber mir wurde vom Veranstalter Dietmar Möws erzählt, dass den beiden mein Text über eine fiktive Südseereise, die später unter dem Titel „Androgynyssee“ bei Bettina Wassmann in Bremen veröffentlicht wurde, sehr gefallen hat. Das war deshalb bemerkenswert, da wenige Zuhörer*innen dort waren und sich wahrscheinlich niemand mehr an den Text erinnern konnte.
Anfang der 1990er Jahre betrieben Rainer Wichering und Cornelia Leunig die Galerie 13 in Hannover. Die Räume dienten früher den Zeugen Jehovas als Königsreichsaal. Die Galerie befand sich im Ortsteil Linden; nicht sehr weit vom Kötnerholzweg entfernt, wo Dietmar und Regina wohnten. Die Wege zur Galerie waren kurz, die Verbindungen wurden eng. Rainer und Cornelia waren aller experimentellen und randständigen Kunst gegenüber aufgeschlossen und Dietmar passte mit seinen bescheidenen und exzentrischen Werken sehr gut ins Programm. Und ich war häufiger Im Kötnerholzweg, wenn ich in der Galerie 13 zu tun hatte, übernachtete dort und freute mich auch über die finanzielle Unterstützung, denn Dietmar und Regina waren unter den ersten privaten Sammlern, die Künstlerbücher vom Hybriden-Verlag erwarben.
In den folgenden Jahren lieferte Dietmar Becker viele Beiträge für den Hybriden-Verlag, insbesondere für das MMM-DIARIUM und die Extraausgaben. Einträge unter „Alle Titel“ inklusive „Privatsammlung“: 44.
Unter Dietmars Kurzbiographie des „Instituts für Psychoanalytische Kunsttherapie“ unter „Lehernde“. steht: „Künstler, Schriftsteller, Philosoph. Lebt und arbeitet in Hannover und Engen/Hegau. Veröffentlichungen zu Grenz- und Experimentalbereichen künstlerischer Praxis Essays zu kunsttherapeutisch relevanten Themen. Einzel- und Gruppenausstellungen seit 1965.
Dietmar hatte wie ich große Sympathien zur Outsider-Kunst und -Literatur. Online verfügbar ist auch noch sein Gespräch mit Hans-Dieter Stoewer für das Künstlerbuch „Kosmografien“, Berlin 1995:
(Auszug 1. Tag)
Becker: Kosmographie – kann man darunter etwas verstehen?
Stoewer: Kosmos ist die Lehre vom All.
Becker: Was ist an Einzelheiten daraus erkennbar?
Stoewer: Grundsätzlich. Das Weltall wird bestimmt von Wesen, die im Himmel vorkommen. Der Kosmos ist die Anschauung der blonden und schwarzen Gestalten.
Becker: Bestimmende Wesen. Über was für Eigenschaften verfügen die?
Stoewer: Sie erscheinen in den Eigenschaften von Puppen oder embryonal. Die Leere erzeugt sie. Flügel haben sie nicht, aber große Zusammenhänge kommen aus ihnen zustande. Unter ihnen ist die Sieben eine Zahl, in den sieben Raben verkörpert. Die Acht wäre ebenfalls erwähnenswert, weil acht Amerikaner und ebenso viele Schokoladentorten zur Ausstattung gehören.
(Auszug 3. Tag)
Becker: Was scheint Ihnen jetzt, wo wir zum Ende unserer kosmographischen Betrachtung kommen wollen, noch besonders erwähnenswert?
Stoewer: Betrachten und Schreiben sind Leibesübungen. Sie beruhen von ganzem Herzen. Das Resultat der Schreiber fußt auf zahlreichen Brillenträgern, die Fielmann ausgekleidet hat mit Sehinstrumenten. Sie passen gut. Wir haben das Vergnügen, Kaffee und Kuchen zu essen und zu trinken. Ich bin ein Heide. Die Freude am Schreiben ist gegeben und Anfälle und Schizophrenie. Margarine + Butter. Ein Mythos des 20. Jahrhunderts wird kosmographisch verkörpert. 1928 ist mein Geburtsjahr und der Tag der 10. August und ist Laurentius.
Kunst. Kontemplation. Dietmar war ein leidenschaftlich kontemplativer Künstler. Und er kannte sich aus:
– mit Golems und Homunkuli
– Judaistik und Bibeltexte
– Alle Arten von Drogen und Räuschen ohne abhängig zu sein
– Bergsteigen in Halbschuhen mit Ledersohlen
– Sammeln von alten Fotobüchern
– Glasmalerei
– Schablonen und Sprayen
– Fotobearbeitung
– Dürers Melencholia
– Gartenphilosophie
– Max Jacob
– endlosen Wanderungen
– AI generierten Bildern…
…
Letztere waren noch Beitrag für das MMM-DIARIUM 4/2024, das ich ihn Mitte Juni 2025 zukommen liess. Titel der Arbeit: „Bildkeime“. Dazu schrieb er:
Das Bemerkenswerte (an den drei fotografischen Arbeiten)… ist, dass sie o h n e Lichteingabe zustande gekommen sind. Das heißt, aus der internen Dunkelkammer, bzw. aus einer Nichtbelichtung als Vorlage: Produktion ex nihilo. Die auf meinem Handy mitgelieferte Fotobearbeitungsware liefert aus völliger Finsternis automatisch Sachen, die sich anschauen und ausdrucken lassen, ohne dass, wie gesagt, auch nur e i n Lichtpartikel eingespeist worden wäre. Es handelt sich dabei um Bildkeime, aber keineswegs in chaotischen Zuständen. Die Pixel sind nach unerfindlichen Gesichtspunkten organisiert, keineswegs bloß schwarz-weiß, sondern andeutungsweise in Zeichen und Mustern und ansatzweise farbig. Das schreibe ich, weil diese Artefakte – tatsächlich jedes ein unwiederholbares Unikat – vielleicht nicht von sich aus einleuchten, sondern kurz erklärt werden müssten als Hervorbringungen aus lichtlosem Raum [Dunkelkammer].
Wir hatten uns wohl über zehn Jahre lang nicht mehr gesehen, aber immer Kontakt gehalten – via Mail und gelegentlichen Anrufen. Vor einigen Jahren war er für einige Wochen im Krankenhaus und dem Tod wohl nahe. Später meinte er am Telefon, dass er diese Erfahrung wohl noch gebraucht hätte. Wie immer folgte eine spezielle Schilderung seiner Wahrnehmungen, die ich aber nicht mehr wiedergeben kann und es vereinfacht verstand, dass er diese Erfahrung noch brauchte, um die Angst vor dem Tod zu verlieren.
Er lud mich nach Engen ein. Der Bodensee wäre nicht weit und war bequem mit dem Zug zu erreichen. Ich fuhr nicht nach Engen und zum Bodensee.
Ist das ein Nachruf? Nein. Nachrufe auf Menschen werden oft gemacht, um sie endgültig zu begraben. Ich glaube, dass Dietmar solche Sätze wie „Man lebt nur einmal“ wie ich nicht ausstehen konnte. Nichts ist verloren. Man muss es nur wiederfinden, neu entdecken. . .
Hinweise:
Website mit Texten und Arbeiten von D.B.http://wegvonwegen.de/?s=Dietmar+Becker
Institut für Psychoanalytische Kunsttherapie http://www.ipk-hannover.de/lehrende.html
Umrisse...Schattenhttps://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Rainer-Wichering+Dietmar-Becker-Umrisse-Schatten/isbn/3933068045