Christian Y. Schmidt
CORONA TESTS BEIJING
Neunundsechzig Massentests in China
Es hat nicht lange gedauert, da waren die Tests als regelmässige Routine in meinen Alltag integriert. Nach einer Weile begann ich sogar Gefallen an dieser behördlich angeordneten Unterbrechung meines Tagesablaufs zu finden. Während ich in der Schlange stand, konnte ich ungestört die Leute beobachten, die in meiner Nachbarschaft wohnen und arbeiten, und die ich vorher nie in dieser Ballung zu sehen bekommen hatte. Weil ich sonst nichts zu tun hatte, studierte ich ihre Kleidung und ihre unterschiedlichen Wartehaltungen. Ich versuchte die Aufschriften auf den T-Shirts zu entziffern, und fragte mich, woran ich die Angestellten aus den benachbarten Büros von Arbeitern unterscheiden konnte. Bemerkenswert fand ich auch, mit welcher Selbstverständlichkeit selbst Kinder auf Inlinern, Skateboards oder mit Wasserpistolen ausgerüstet zu den Tests erschienen.
In seiner 1960 erschienen „Theorie des Films“ formulierte Siegfried Kracauer angesichts der von Edward Streichen konzipierten New Yorker Ausstellung „The Family of Man“ eine ähnliche Hoffnung. Den ausgestellten Fotografien aus 68 Ländern sprach Kracauer die Fähigkeit zu, den Betrachter dazu zu bringen, die „Familienähnlichkeit“ aller Menschen zu erkennen. So würden die Fotos dafür sorgen, dass wir globaler zu sehen beginnen: „Sie machen“, so der Soziologe und Filmtheoretiker, „aus der Welt virtuell unser Zuhause.“
Ich denke, dieses Erkennen der Familienähnlichkeit und der globale Blick ist angesichts der zunehmenden Konfrontation zwischen dem westlichen Block und China nötiger denn je. Alle Bewohner dieses Planeten sollten sich im Klaren darüber sein, dass wir inzwischen an einem Punkt angelangt sind, wo diese Konfrontation jeder Zeit in einen Krieg münden kann. Dann werden die Leute, die auf den Fotos hier in der Schlange stehen, zu Feinden deklariert werden. Auch deshalb sollte man alles tun, um diesen Krieg zu verhindern.
It didn't take long before the tests were integrated into my daily routine as a regular occurrence. After a while, I even began to enjoy this officially ordered interruption of my daily routine. While standing in the queue, I could observe undisturbed the people who live and work in my neighbourhood and whom I had never seen before in such a conglomeration. Because I had nothing else to do, I studied their clothes and their different waiting postures. I tried to decipher the inscriptions on their T-shirts and wondered how I could distinguish the employees from the neighbouring offices from workers. I also found it remarkable how naturally even children showed up for the tests on inline skates, skateboards or equipped with water pistols.
In his 1960 "Theory of Film", Siegfried Kracauer formulated a similar hope in view of the New York exhibition "The Family of Man" conceived by Edward Streichen. Kracauer attributed to the exhibited photographs from 68 countries the ability to make the viewer recognise the "family resemblance" of all people. In this way, the photos would ensure that we begin to see more globally: "They make," said the sociologist and film theorist, "the world virtually our home."
I think this recognition of the family resemblance and the global view is more necessary than ever in view of the increasing confrontation between the Western bloc and China. All inhabitants of this planet should be aware that we have now reached a point where this confrontation can turn into war at any time. Then the people standing in line in the photos here will be declared enemies. This is another reason why everything should be done to prevent this war.