Montag, 28. Februar 2022

Quarantäne Updates Shanghai

Christian Y. Schmidt

Quarantäne Updates Shanghai

Ein Feldforschungsbericht


Montag, den 8. November, Tag 1


10:12 Uhr. Nehme mir die Papiere vor, die ich gestern noch nicht gelesen habe, weil ich zu erschöpft war. Das wichtigste ist offenbar ein DIN-A-4-Blatt mit der Überschrift „Notice“, das zweiseitig bedruckt ist. Auf der ersten werden mehrere Gesetze zitiert, auf die man sich stützt. Dann kommt man zum fettgedruckten Punkt: „All those who have traveled to or lived in severly affected countries within the previous 14 days are required to have the body temperature checked upon the arrival and to take 14-day home quarantine or centralized quarantine observation.“ Anschliessend wird erklärt, dass die staatlichen Organe Zwangsmaßnahmen gegen die ergreifen können, die sich nicht an die angeordneten Maßnahmen halten. Zum Schluß wird es noch einmal fettgedruckt und sogar gesperrt: „LAST AND NOT LEAST, DO NOT leave your room without any permission. Otherwise, you will probably get prosecuted and fined, according to the Chinese legislation, for committing the crime of endagering public security.“ Verstanden, wenn ich das Zimmer verlassen, begehe ich ein Verbrechen. 


11:27 Uhr. Immer noch deutlich zu kalt im Zimmer. Versuche, die Rezeption telefonisch zu erreichen, stelle mich aber zu dumm an. Ziehe meinen Mantel an. Kurze Befürchtung, ihn zwei Wochen lang zu tragen. 


11:32 Uhr. Am rechten und am linken Fenster zwei kleine Grashüpfer. Pappen von außen an der Scheibe und bewegen sich nicht. Taufe den linken Pit und den rechten Knorr. Warum, weiß ich nicht. 


11:34 Uhr. Hüpfer bringen mich auf die Idee, die Oberlichter zu überprüfen. Obwohl sie zwei Klinken haben, die sich auch bewegen lassen, kann man sie nicht öffnen. Sie sind offenbar mit Kreuzschlitzschrauben fixiert worden und ich habe keinen Schraubendreher. Notiz an mich selbst: Bei der nächsten Quarantäne an Werkzeug denken.


Mittwoch, 10. November 2021, Tag 3


17:45 Uhr. Abendessen. Als ich die Tür öffne, stinkt es stark nach Chlor. Seetang mit etwas Hackfleisch. Karotten mit Tofu. Grünes Gemüse. Rindfleischgulasch in Sternanissauce. Eierstichsuppe mit Karottenstreifen. Jogurt. Apfel.


18:50 Uhr. Netflix. Doku über „Exodus“, eine klerikale Organisation in den USA, die Homosexualität für heilbar hielt und Propaganda für Konversionstherapien machte. Plötzlich tanzen Schatten über dem Bett. Was ist denn jetzt los? Ist das der berüchtigte Lagerkoller? Werde ich verrückt? Minutenlang suche ich nach der Ursache für die tanzenden Schatten, bis ich eine Motte unter dem Halogenstrahler an der Zimmerdecke ausmache. Nehme die aktuelle Konkret und schlage den illegalen Mitbewohner kurzerhand tot. Titel des Heftes: „Ist das noch Sozialismus? China und die Linke.“


Donnerstag, 11. November 2021, Tag 4


15:41 Uhr. Entdecke verschiedene Geräte in dem Shared-Verzeichnis auf meinem MacBook. Sie heißen: hp-pc, kuo-yuan, pe112sa, r9900015747, Kailun MacBook Pro, MacBookPro (2) und dirksmobile. Wer, verdammt noch mal, ist Dirk? Gibt es andere Sprachen als das Deutsche, in denen Dirk ein Name ist? Dirk, je länger ich über den Namen nachdenke, desto lächerlicher erscheint er mir. Dirk. Wie kann man nur so heißen? Ist das nicht auch der echte Vorname von Tex Rubinowitz? Ich googele. Dirk ist angeblich eine Kurzform von Theoderich. Der legendäre König der Ostgoten ist hier in Quarantäne? König Dirk? Aufhören, sofort mit dem Scheiß aufhören, sonst bekomme ich tatsächlich einen Quarantänekoller. 




Samstag, 13. November 2021, 6. Tag


16:49 Uhr. Ein Apfelstück bleibt in der Speiseröhre stecken. Bekomme nicht einmal mehr Wasser runter. Sehr unangenehm. Wenn das jetzt so bleibt? Muss ich eventuell sterben?  


16:53 Uhr. Bin mir recht sicher, dass ich sterben muss. Google, was ich tun soll. Bekomme nur Quatsch-Tipps zu lesen („Brot essen“). 


17:02 Uhr. Würge über der Kloschüssel das Apfelstück bröckchenweise wieder raus. Sieht sehr, äh, ungesund aus, weil von ordentlich Schleim und Speichel begleitet. Gut, dass es im Zimmer keine Überwachungskamera gibt. Würde jemand beobachten, was ich hier treibe, würden sie mich sofort rausholen und in eine Klinik stecken. 


Freitag, 19. November 2021, Tag 12


0:10 Uhr. Öffne die Tür wieder. Sehe, dass das Zimmer, das mir genau gegenüberliegt, erstmals geöffnet ist. Wohnt da Personal mit uns in der Corona-Bubble? Ein Hazmati bringt Plastiktüten. Darin: Zwei Röhrchen, mehrere Latexhandschuhe und Teststäbchen in Verpackung. Er legt alles auf mein Tischchen. 


0:15 Uhr. Lautes Klopfen. Es geht los. Ein Hazmati, wie immer im doppelten Schutzanzug. Er zieht sich das Paar Latexhandschuhe vom Tischchen an, und zwar über die Latexhandschuhe, die er sowieso schon trägt. Wieder wird mit dem ersten Stäbchen zunächst im Rachen ein Abstrich gemacht. Das zweite ist für die Nase. „Relax“, sagt der Hazmati. Als er fertig ist, bedeutet er mir, im Türrahmen stehen zu bleiben. 


0:17 Uhr. Dem Mann folgt eine Frau. Sie wiederholt genau die gleiche Prozedur, inklusive „Relax“. Der einzige Unterschied: Bei ihr brennt das Stäbchen auf der Nasenschleimhaut. Interessant. Das waren jetzt offenbar zwei PCR-Tests hintereinander, alles im Quarantäne-Paket eingeschlossen. 




Zeichnung von Hartmut Andryczuk (Vorzugsausgabe)



Samstag, 20. November 2021, Tag 13


11:27 Uhr. Klopfen. Ein Brief liegt auf dem Tischchen. Er enthält Anweisungen für die Entlassung und ist mit „Dear Friend“ überschrieben. „We sincerely thank you for your support and understanding and thank you for your contribution and sacrifice to the epidemic prevention and control in the past 14 days.“


Dann folgen fünf Punkte:


1) Bevor sie das Zimmer verlassen, bitte den ganzen Müll in schwarze Plastiksäcke packen.

2) Die Route, auf der sie das Hotel verlassen, ist dieselbe, auf der sie gekommen sind. Bitte warten sie geduldig, bis der Doktor sie aufruft. Verlassen sie den Raum nicht vorher.

3) Wenn sie gehen, lassen sie die Tür geöffnet.

4) Geben sie ihre Zimmerkarte dem Doktor oder legen sie sie in den Desinfektionseimer im Erdgeschoss. Halten sie ihren Pass bereit. Der Doktor wird ihnen ihre Entlassungspapiere, ihr Testergebnis und ihre Rechnung geben. Bewahren sie alles gut auf.

5) Ihr Gesundheitscode wird wahrscheinlich nicht sofort grün werden, deshalb brauchen sie auf jeden Fall ihr Entlassungszertifikat und ihr Testergebnis für ihre Fahrt.


Once again, thank you for sour support and understanding. All the best! Holiday Inn Express Epidemic Prevention Team.


Sonntag, 21. November 2021, Tag 14


14:30 Uhr. Rufe meine Frau an. Sie ist gerade aus dem Taxi gestiegen und steht vor dem Hotel. Versteht nicht, wo ich bin. Versuche es, ihr zu erklären. 


14:31 Uhr. Yingxin biegt mit einem blauen Rollkoffer um die Ecke. Stürmt auf mich zu. Ist sie es wirklich? Bin ICH wirklich? Bin ich nicht in Zimmer 5038 gestorben? Letzte Woche oder so?


14:33 Uhr. Wir liegen uns in den Armen. Doch, das ist wirklich, so etwas fühlt man nicht als Gespenst. Ich schlucke, Yingxin weint ein bisschen. Küssen können wir uns nicht, weil wir beide Masken tragen. Es ist genau 648 Tage her, dass wir uns nicht mehr berührt haben. 1 Jahr, 9 Monate, 1 Woche, 2 Tage. Rechne ich natürlich später aus. 




Edition: 128 Seiten, gebunden. Mit fünf farbigen Abbildungen
Quarantäne-Video (DVD) von Christian Y. Schmidt
Beilage: Originalzeichnung "ROOM 5038" von Hartmut Andryczuk

Normalausgabe: 100 Exemplare, signiert und nummeriert

Auslieferung ab Montag 4. April 2022

100 €


Mittwoch, 23. Februar 2022

Tabea Blumenschein, Die Knochenband

Tabea Blumenschein

Die Knochenband

The Bone Band


In den Filmen von Ulrike Ottinger inszenierte sich Tabea Blumenschein mal als femme, dann als butch, wieder als Mann oder als sexy Pin-Up-Girl. Zu den beliebtesten Sujets ihrer Zeichnungen zählten Bartfrauen, Hermaphroditen, Matrosen, Knochengirls, Trans* und queere Charaktere. Tabea Blumenschein war queer, bevor dieser Begriff überhaupt existierte, so fasste es Philipp Meinert im Berliner Magazin Siegessäule mal zusammen.


Als Hartmut Andryczuk fragte, ob Tabea wohl Lust haben könnte, fünf Leporellos für eine Edition im Hybriden-Verlag zu zeichnen, war sie gerade dabei ihre Entwürfe für rote tote bag fertigzustellen. In dieser sollte das Künstlerbuch Die Tödliche Doris – Kostüme und Kulissen liegen. Das Buch selbst war mit ihren Kostümzeichnungen illustriert. Um die Erinnerung wachzurufen, hatte ich Tabea einige Wochen zuvor Fotos unserer Performances aus den 1980er Jahren mitgebracht. Diese zeigten unter anderem einen von Tabeas engsten Freunden, den Künstler Mark Brandenburg, der im Mai 1989 als auferstandene Doris in einer eleganten weißen Felljacke in Ostberlin auftrat. Oder Hausbesetzerin Elke Kruse, die mit dem von Nikolaus Utermöhlen entworfenen Knochenkostüm und verfilzten Haaren wie ein Rasta-Gespenst auftauchte. Erinnerungen stiegen hoch und Tabea erzählte vom aufwändigen Färben der vier Batikkostüme in ihrer großen Küche in der Erdmannstraße. Die Voodoo-Doll-Kostüme hatte Tabea in eigener Regie für den Open-Air-Auftritt auf der Nordseeinsel Helgoland hergestellt. 


Aus den Erinnerungen entstand 2018 im Laufe von drei Wochen Tabeas Zeichnungsserie „Die Knochenband“, insgesamt 50 variierende Zeichnungen auf 5 Leporellos. Doris singt von der „Schuld-Struktur“ oder präsentiert sich in Tabeas Voodoo-Doll-Kostüm. Die Knochenband feiert fröhlich das Oktoberfest in Volkstracht oder sie singt im Tangoschritt vom „Apachentanz“. Ob Deadly Doris oder Doris mortelle – alle Menschen sind wie Doris: tödlich und sterblich.  


(Wolfgang Müller)




In Ulrike Ottinger's films, Tabea Blumenschein staged herself sometimes as a femme, then as a butch, again as a man or as a sexy pin-up girl. Among the most popular subjects of her drawings were bearded women, hermaphrodites, sailors, bone girls, trans* and queer characters. Tabea Blumenschein was queer before the term even existed, as Philipp Meinert once summed it up in the Berlin magazine Siegessäule.


When Hartmut asked if Tabea would like to draw five leporellos for an edition in the Hybriden-Verlag, she was just finishing her drafts for rote tote bag. The artist's book Die Tödliche Doris - Kostüme und Kulissen was to be in it. The book itself was illustrated with her costume drawings. To evoke the memory, I had brought Tabea photos of our performances from the 1980s a few weeks earlier. These showed, among others, one of Tabea's closest friends, the artist Mark Brandenburg, performing in East Berlin in May 1989 as the resurrected Doris in an elegant white fur jacket. Or squatter Elke Kruse, who appeared like a Rasta ghost in a bone costume designed by Nikolaus Utermöhlen and matted hair. Memories soared and Tabea told of the elaborate dyeing of the four batik costumes in her large kitchen in Erdmannstraße. Tabea had made the Voodoo Doll costumes on her own for the open-air performance on the North Sea island of Helgoland. 


From the memories, Tabea's drawing series "The Bone Band" was created over the course of three weeks in 2018, a total of 50 varying drawings on 5 leporellos. Doris sings about the "guilt structure" or presents herself in Tabea's voodoo doll costume. The Bone Band happily celebrates Oktoberfest in folk costume or sings of the "Apache Dance" in tango step. Whether Deadly Doris or Doris mortelle - all people are like Doris: deadly and mortal. 


(Wolfgang Müller)



Buch, gebunden mit Prägeklischee einer Zeichnung von T.B.
Texte von Hartmut Andryczuk und Wolfgang Müller
Sechsundsechzig Seiten mit fünf Zeichenserien von Tabea Blumenschein
Beiheft mit Bildmaterial aus Tabea und Doris dürfen doch wohl noch Apache tanzen, 1981, bestempelt von Wolfgang Müller.
Die Edition erscheint anlässlich der Ausstellung Tabea Blumenschein in der Galerie K’ vom 12.03 bis zum 04.06.2022

Book, bound with embossed cliché of a drawing by T.B.

Texts by Hartmut Andryczuk and Wolfgang Müller
Sixty-six pages with five series of drawings by Tabea Blumenschein
Supplement with pictures from Tabea und Doris dürfen doch noch Apache tanzen, 1981, stamped by Wolfgang Müller.
The edition is published on the occasion of the exhibition Tabea Blumenschein in the gallery K' from 12.03 to 04.06.2022

85 € (plus 7 € Postage)