Donnerstag, 29. Juni 2023

Lukas Diestel, Gedichtgrube



"Ein Silikonfaden hängt in meinem Arm. Daran finden elektrochemische Reaktionen statt, die ich zum Glück nicht durchdringen muss, damit sie stattfinden. Damit am Ende eine Zahl über Bluetoothumwege auf einem Display landet. Die Konzentration von Blutzucker in meinem Unterhautfettgewebe. Alle fünf Minuten ein neuer Wert. Im besten Fall irgendwo zwischen 80 und 150, häufig höher, manchmal niedriger.


Die Diagnose ist in meinem Fall eine Erleichterung. Ein Name, eine Erklärung, für die seit Monaten anhaltende lähmende Müdigkeit. Diabetes Typ 1. Ich google "Typ 1 Diabetes Kaffee trinken", ich google "Typ 1 Diabetes Lebenserwartung." Die Lebenserwartung ist heutzutage, bei guter Einstellung der Krankheit, nahezu normal. Kaffee hat keine Kohlenhydrate. Es könnte schlimmer sein.


Ich will etwas bauen, was selbst dem schlimmsten Wert, dem nervigsten, dem gefährlichsten, dem ich-halte-das-alles-nicht-mehr-ausigsten etwas Positives geben kann. Eine Zweitverwertung für den konstanten Datenstrom. Ein Teil des Versuchs hältst du in den Händen. Über 400 Gedichte aus meiner Gedichtgrube, meinem persönlichen Gedichte-Bergwerk.


Gedichte einer von mir dafür spezifisch trainierten KI, an deren Anfang immer einer meiner Blutzuckerwerte liegt. Poetische 5-Minuten Abschnitte meines Lebens mit Typ 1 Diabetes..."


(Lukas Diestel)



Nummer: 50

Titel: Rostiges Wasser 

Text:


Nachlassen, zerstören.

Vom hybriden Blitz 

mittendrin, und der Wind stinkt fort.

Der Dunkle wallt in die Luft, schnappt sich 

einen Strom aus dem uns der Kopf bricht; 

Wir sind in einem ewigen Himmel. 

Das Wasser rostet durch alle Tiefen 

und spiegelt das Weiß 

eines auf einer Regenbogenbrücke gelagerten Lebens:

Hier ist kein Schatten, dort ist keine Zukunft.  


Erstellt am: 2021-05-23 04:57:36.226927

Blutzucker und Stimmung: 165, Depressivitaet

Entdeckt von:  


Ein Messgerät zur kontinuierlichen Blutzuckermessung (das Dexcom G6), sendet alle 5 Minuten einen aktuellen Wert per Bluetooth. Ein in Python programmiertes Programm ruft den aktuellen Wert ab und ordnet ihn wie folgt einer Stimmung zu:

Wert niedriger als 60 Furcht

Wert zwischen 60 und 80 Aengstlichkeit

Wert zwischen 80 und 100 Liebe

Wert zwischen 100 und 120 Begeisterung

Wert zwischen 120 und 140 Freude

Wert zwischen 140 und 160 Zufriedenheit

Wert zwischen 160 und 200 Depressivitaet

Wert über 200 Zorn

Je nach Stimmung werden dann aus dem Affektiven Diktionär Ulm (Hölzer et al., 1992) zufällig ein Adjektiv/Verb und ein Substantiv ausgewählt und in die Gedicht-KI gegeben, die daraus eine Anfangszeile generiert und dann ein Gedicht schreibt.



Lukas Diestel begann dieses Projekt nach der Diagnose seines Typ 1 Diabetes. Bekannt geworden ist er mit seinem Freund und Kollegen Jonathan Löffelbein durch den Blog „Worst of Chefkoch“ – („Das Schlimmste, was aus der kulinarischen Hölle von chefkoch.de an die Oberfläche gespült wird“). Geboren ist er 1989 in Berlin, studierte in Freiburg English und American Studies sowie Kognitionswissenschaften, war mit seiner Höllenküche zu Gast in zahlreichen Talkshows, hatte kurzzeitig eine eigene TV-Show, schreibt Lyrik, arbeitet als Online-Redakteur und ist ständig mit Lese- und Bühnenshows unterwegs. Ist er Autor, Lyriker, Programmierer, Nerd, Performer, Konzeptkünstler? Egal. 


„Mein Gehirn ist nicht dafür geschaffen, zwei Monate lang das Gleiche zu tun.“ (L.D.)



Seitenzahl: 410 – exklusive acht großformatigen Zeichnungen von Hartmut Andryczuk. Begleittext von Lukas Diestel & Hartmut Andryczuk.
Auflage: 30 Exemplare, signiert und nummeriert

900 €

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